Keine Innovation ohne Intuition
Julia Graven im Gespräch mit dem Psychologen Professor Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam, über die Angst vor der Intuition.
»Der intuitive Geist ist ein heiliges Geschenk und der rationale Verstand ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener ehrt und das Geschenk vergessen hat.«
Wir werden überwältigt von Informationen. Digitale Technik macht es möglich, an jedem Ort der Welt Unmengen von Daten zu sammeln. Google liefert uns in Sekunden das Weltwissen auf das Display des Mobiltelefons. Doch macht das unsere Entscheidungen einfacher, macht es sie richtiger? Professor Gerd Gigerenzer hat da Zweifel. Für ihn ist die menschliche Intuition eine der wichtigsten Entscheidungshilfen. Es gilt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und überflüssige Informationen zu ignorieren. Das funktioniert für Gigerenzer überall dort gut, wo er sich auskennt. Erfahrungen sind eine wichtige Voraussetzung für intuitives Handeln. Und dort, wo es nicht ganz so wichtig ist, verlässt der Risikoforscher sich bei seinen Entscheidungen auch gern auf andere. Zum Beispiel auf den Kellner im Restaurant.
Als Risikoforscher beschäftigt sich Gerd Gigerenzer mit der Frage, wie wir in einer unsicheren Welt Entscheidungen treffen. Einer breiten Öffentlichkeit wurde er vor allem mit seinem Buch »Bauchentscheidungen« bekannt, das als »Wissenschaftsbuch des Jahres« ausgezeichnet und in 17 Sprachen übersetzt wurde. Der Wissenschaftler sagt: Ausschließlich rational getroffene Entscheidungen machen in den seltensten Fällen Sinn.
PROFILE: Herr Gigerenzer, können wir uns in schwierigen Situationen wirklich auf unser Gefühl verlassen?
Prof. Gerd Gigerenzer: Wir brauchen beides – Kopf und Bauch gleichermaßen. Man sollte nie das eine gegen das andere ausspielen – und man sollte beiden gegenüber kritisch sein. Der Bauch kann irren, der Kopf genauso.
Wann ist es Zeit für den Kopf?
Wenn ich die Risiken gut berechnen kann, greift die klassische Entscheidungstheorie. Hier kann ich mit Wahrscheinlichkeitstheorie, Statistik, Fakten und Big Data ziemlich weit kommen. Beim Roulette brauche ich keine Intuition, da kann ich ausrechnen, wie viel ich auf lange Sicht verlieren werde. Aber in Situationen mit hochgradiger Ungewissheit – wo soll man bauen, wem soll man trauen, wen soll man heiraten – reichen Berechnungen nicht.
Wo bewährt sich der Bauch?
Mir ist im Laufe der Jahre bewusst geworden, dass ich nicht alle Risiken abwägen muss, um eine gute Lösung zu erhalten. Im Alltag helfen einfache Regeln. Ich frage in einem guten Restaurant zum Beispiel den Kellner, was er heute Abend hier essen würde. Das bringt meist mehr, als die Speisekarte zu studieren und lange abzuwägen.
Im Wirtshaus reicht mir ein gutes Essen, es muss nicht das beste sein. Aber sollte sich etwa ein Architekt wirklich mit der erstbesten Lösung zufrieden geben?
Wenn ich durch meine eigene Forschung eines gelernt habe, dann, Entscheidungen schneller zu treffen als früher. Besonders schnell geht das dort, wo ich viel Erfahrung habe. Schließlich sieht ein erfahrener Architekt auf den ersten Blick viel mehr als ein Laie. Ich würde daher einem Architekten vertrauen, der eine gute Portion Intuition hat. Wenn er etwas wirklich Innovatives erschaffen will, geht das nicht ohne Intuition. Trotzdem ist Intuition allein nicht ausreichend. Sie liefert nur die Grundlage für eine genaue Analyse. Und wenn sich in der Analyse zeigt, dass die erstbeste Lösung nicht funktioniert, dann funktioniert bei erfahrenen Entscheidern oft die zweitbeste Lösung.
Ist das Bauchgefühl also eine Art »sechster Sinn«?
Ganz und gar nicht! Intuition ist in der Regel gefühltes Wissen. Langjährige Erfahrung, die sich nicht artikulieren lässt. Unser Gehirn vollbringt permanent Leistungen, die wir nicht bemerken oder reflektieren. Nur ein Teil des Gehirns kann sich sprachlich ausdrücken, aber im Rest steckt auch Information, und das zählt dann als Intuition.
Lässt sich Intuition trainieren?
Gute Intuitionen beruhen auf Erfahrung und einfachen Faustregeln. Sie lassen sich also trainieren. Es ist aber auch wichtig, sich zu trauen. Darüber hinaus sollte man sich intuitive Regeln bewusst machen. Zum Beispiel die, eine wichtige Entscheidung nur nach dem für mich wichtigsten Grund zu treffen und die anderen Argumente zu ignorieren. Das kann man im Alltag bewusst versuchen und so wieder mehr Vertrauen gewinnen in die eigene Intuition.
Können Sie nachweisen, dass intuitive Entscheidungen besser sind als eine Pro-und-Contra-Liste?
Es gibt gute Beispiele, wo bei erfahrenen Entscheidern der erste Impuls, die erste Idee, das erste Gefühl mit höherer Wahrscheinlichkeit besser ist als alles, was nachher kommt. Wenn Experten kaum Zeit zum Nachdenken haben, treffen sie meist die besseren Entscheidungen. Der Anfänger dagegen braucht mehr Zeit. Am besten lässt sich das im Sport nachweisen. Für einen Golfprofi etwa ist es besser, dem ersten Impuls zu folgen. »Wennst nachdenkst, is’ eh zu spät«, um es mit Rekordtorjäger Gerd Müller zu sagen.
Leider funktionieren Entscheidungen in großen Firmen oder Teams aber selten so wie auf dem Fußballplatz …
Trotzdem, das zeigen unsere Untersuchungen, sind in großen, börsennotierten Unternehmen etwa 50 Prozent aller wichtigen Entscheidungen am Ende eine Bauchentscheidung. Das würden die Manager in der Öffentlichkeit aber nie zugeben, weil sie Angst haben, zu ihren Bauchentscheidungen zu stehen – und die Verantwortung zu tragen. Stattdessen engagieren sie lieber Berater, die dann mit vielen Zahlen die längst getroffenen Entscheidungen rechtfertigen und objektivierbar machen sollen. Diese Absicherungskultur macht viele Entscheidungen langwierig und teuer – und hemmt Innovation. Denn man kann meist nicht mit Sicherheit wissen, ob eine Entscheidung richtig ist.
Wird Big Data unsere Intuition überflüssig machen?
Im Gegenteil. In einer Welt, die sich rasant verändert, versagen die mathematischen Modelle, die auf Daten der Vergangenheit basieren. Wenn wir nicht wissen, was morgen ist, bringen uns Massen alter Daten wenig. Wir tendieren dazu, die Berechenbarkeit der Zukunft zu überschätzen. Auch bei Big Data sind wir wie eh und je auf eine gute Intuition angewiesen. Denn Intuition bedeutet, dass man unbewusst spürt, auf welche Information man sich verlassen und konzentrieren kann, und welche man ignorieren soll.
Eine künstliche Intelligenz könnte das mit entsprechenden Algorithmen doch auch.
Künstliche Intelligenz funktioniert dann gut, wenn die Regeln gleich bleiben. Zum Beispiel beim Schach oder Go. Im Alltag sind solche Situationen aber selten. Nehmen Sie die Online-Partnerbörsen. Da sind Sie vom Profil eines Menschen auf dem Portal vielleicht begeistert. Doch wenn Sie diesen Menschen im echten Leben treffen, wissen Sie oft nach wenigen Augenblicken, dass es doch nicht passt.
Die »Schöne neue Welt« wäre also eine vorhersehbare Welt?
Wenn wir wüssten, wie unsere Zukunft aussieht, würde uns nichts mehr erfreuen, überraschen oder enttäuschen. Jeder wüsste, wann er oder sie sterben wird und ob die Ehe geschieden wird. In dieser Welt der Gewissheit hätten unsere Emotionen kaum mehr eine Funktion. Wäre alles gewiss, bräuchten wir wenig von dem, was uns zum Menschen macht. Das Leben wäre so langweilig, wie die Zeitung vom letzten Jahr zu lesen.
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